Klappentext
Johanne Jakobian hat 12 Jahre im Nordosten Brasiliens gelebt. Sachkundig beschreibt sie in ihren Erzählungen Gutsbesitzer und Bettelkinder, Intellektuelle und Analphabeten. Sind sie Menschen wie wir? Ja und nein. Hier glaubt nicht einmal die Liebe an ihre Ewigkeit. Und nicht zu Unrecht heißt eine Erzählung Familienbande. Hautfarbe und Herkunft entscheiden über den Rang des Einzelnen; das betrifft vor allem Frauen, die die Geborgenheit in der Gemeinschaft, die sie stützt, durch den Verzicht auf eigene Entscheidungen oft teuer bezahlen.
Leserstimmen:
Prof. Dr. Rainer Lehmann: „Köstliche, originelle Erzählungen. Wie in ihren anderen Büchern bewegt Johanne Jakobians Gabe bestechend großartiger Formulierungskunst. So erreicht die Autorin oft, nicht zuletzt in der titelgebenden Erzählung, geradezu schmerzhafte Treffsicherheit, jedoch stets moderiert durch ein gehöriges Maß köstlichen Humors. Damit bereitet das Buch großes Vergnügen.“
Eva M.: „Vor und nach Brasilienreise – lesen! Man folgt den Figuren gespannt durch deren für uns sonst nicht so leicht zugängliches Leben. Ich habe die Erzählungen erst nach einer Brasilien-Reise gefunden, so hat sich mir im Nachhinein manches erklärt.“
Inhalt:
Geschwister in der Großstadt – Auftritt in Air Brasil oder Ein Traum wird wahr – Königin von Cabo de Vaca oder Der Weg nach oben – Der Sträfling und die Nonne – Gringo und Favelajunge – Die Blume seines Lebens –Ein Hauptmann von Köpenick in Brasília – Familienbande – João und Severina oder Feierabend in der Favela – Graziela mit dem glücklichen Händchen oder Wie im Leben, so durch den Zoll – Von einer, die auszog, die Gesellschaft zu ändern – Gegessen wird zu Hause oder Die süße Versuchung – Waschfrauen am Straßenrand oder Vom Kampfgeist der Armen – Klassenkameraden – Larissas Teil oder Im Krankenhaus geht’s ehrlich zu – Gift in der Plaudertasche oder Törtchen und tote Babys
Leseprobe
Geschwister in der Großstadt
Die Kinder hatten kaum gemerkt, wie sie zu Waisen wurden. Erst war ihre Mutter ja auch nur krank. Sie stand nicht mehr draußen unter der Kokospalme und wusch Wäsche für andere Leute – sie lag im Haus, stöhnte und schickte die Kinder zur Nachbarin. Dann war sie im Krankenhaus, und dann hieß es: Sie ist tot. Die Kinder sahen das Gesicht der Mutter; es war ruhiger als im Leben.
Allmählich kam den Kindern dann auch der Vater abhanden – nicht ihr richtiger Vater, das wussten sie, nur der Vater des Geschwisters, das die Mutter nicht haben wollte. Der Mann hatte drei Jahre mit den Kindern und ihrer Mutter zusammengelebt und fühlte eine gewisse Verantwortung. Als Maurer musste er mit ein, zwei Kollegen auf der Baustelle schlafen und das Baumaterial bewachen. Aber er kam am Wochenende und gab der Nachbarin Geld, um die Kinder zu versorgen. Natürlich kam er nicht jedes Wochenende, anfangs aber ziemlich oft. Allmählich dann seltener. Und irgendwann gar nicht mehr.
Die Nachbarin hatte selbst Kinder und kein Geld. Da sagte sie schon mal: „Geht los, könnt selbst für euch sorgen“, und gab die große Stofftasche herüber, die neben dem Eingang hing.