Irrgarten Familie

Irrgarten Familie

15 Erzählungen, 204 Seiten

Kindle Edition 2016, € 2,99

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Im Irrgarten Familie meint jeder, alle anderen genau zu kennen. Da sind Konflikte vorprogrammiert! Schon die erste Erzählung behandelt ein gefährliches Thema: Die Erbschaft. Wer weiterliest, stößt auf Morde, die ungesühnt bleiben, und Eltern, die ihr Kind ihrem Ehrgeiz opfern. Zum Glück gibt’s Gegenbeispiele: Ein junges Paar tut, was es kann, um sein Kind zu retten, Nachkriegs-Familien halten zusammen – aber Konflikte können tödlich sein, und unerfüllte Sehnsucht tut weh. Aber Johanne Jakobian erzählt so humorvoll, so leichthändig, dass ihre Leser immer wieder auch lachen können – und werden!

Inhalt:
Papas Chip – Die Puppe Christine – Schlachteplatte – Bei uns lässt man sich nicht gehen – Mami’s Liebling – Ich habe dich beim Namen gerufen, du bist mein – Februar 1946 – Geschenksendung – keine Handelsware – Herr Grabowski findet nach Hause – Mutterkraut und Tränende Herzen – Tote fliegen erster Klasse – Wassilij’s Heimkehr – In aller Stille – Weihnachten gibt’s Heringssalat

 

Die Puppe Christine

 

         Wenn ich Angst habe, gehe ich zu meiner Schwester ins Bett. Sie schiebt Christine zur Seite, damit ich rein kann, und ich liege ganz still, damit sie mich nicht zurückschickt.

         Vormittags ist meine Schwester in der Schule. Dann sitzt Christine im Nachthemd hinterm Kopfkissen. Das Hemd hat Oma genäht. Es ist weiß und hat blaue Ränder. Auf der Brust ist auch was Blaues. Das bedeutet Christine, sagt Mama.

         Hinterm Kopfkissen heißt: Keiner darf drangehen.

         Meine Schwester hatte Christine schon, als es mich noch nicht gab. Früher, als alles gut war. Solange die Brüder klein waren, hat sie geguckt, was Mama machte, und Christine genauso gewickelt. Später, bei mir, betete sie, dass die Puppe lebendig würde. Ein Jahr lang hat sie gebetet.

         Mama weiß das nicht. Nur mir hat’s meine Schwester erzählt.

         Das war früher, als alles gut war. Ich erinnere mich nicht daran. Wenn Besuch kommt, sagen meine Eltern das, und der Besuch sieht mich an. Das gefällt mir. Obwohl, eigentlich finde ich auch doof, dass alle mehr wissen als ich. Das mein Bruder Ebbä sagte – so was Doofes –  Erdbeere ist doch kinderleicht. Dass er vom Garten ins Wohnzimmer klettern konnte. Dass meine Schwester so hoch schaukelte – die Schaukel hing am Baum.

         Manchmal sagt meine Mutter: „Jetzt wäre das Haus für uns ja auch zu klein.“ Das klingt furchtbar. Ich mag es nicht hören. Weil, dann können wir gar nicht zurück.

         Meine Schwester erinnert sich an die Fahrt im Lkw. Viele Frauen und Kinder, und wie sie morgens die Plane aufzog und sah, dass die Sonne aufging. „Wir fanden das toll!“ Aber sie lacht nicht, wenn sie das sagt.

Meine Eltern hatten einen Koffer. Jeder durfte ein Spielzeug mitnehmen, nur ich nicht, ich war erst zwei. Meine Brüder legten ein Lottospiel rein. Für meine Schwester kam nur Christine in Frage. Jetzt ist der Koffer im Schlafzimmer hinter der großen Matratze, auf der meine Eltern schlafen. Sie haben ihre Sachen darin.

         Seit wir wieder eine richtige Wohnung haben, wo nur wir sind, und eine Küche, ein Badezimmer, alles – seitdem gibt es auch ein Kinderzimmer. In der Mitte ist der Tisch, ringsum stehen Betten. Jeder hat eins für sich. Ich habe mehr anzuziehen als die Großen, weil sie aus allem rauswachsen. Am besten finde ich Jungshemden, die verkehrt geknöpft werden, am blödsten die Schuhe mit Papier vorn drin, damit ich sie nicht verliere.

         Im Wohnzimmer steht ein Tisch mit sechs Stühlen. Da essen wir. Es gibt Erbsensuppe, Linsensuppe, Kartoffelsuppe, Streckrüben und Graupensuppe. Manchmal ändert sich die Reihenfolge. Samstags essen wir Apfelkartoffel, sonntags Hackbraten. Graupen schmecken eklig, Apfelkartoffel nur uns Kindern. Den Hackbraten könnte ich allein aufessen.

         „Die Kinder haben sich eingelebt“, sagen meine Eltern.

 

         Aber eines Tages sagten sie: „Sonntag kommen Kramers.“

         Die Kramers! Sogar ich guckte hoch. Kramers, das hieß Bubel und Puck. Spielen im Garten. Rollerwettfahrt auf der abschüssigen Straße, Obst essen bei Kramers und Dickmilch bei uns. Früher, als alles gut war.

         Für den Sonntag mit Bubel und Puck räumten meine Geschwister auf. So hatte ich das Kinderzimmer noch nie gesehen. Je näher der Tag kam, umso mehr fiel ihnen ein. Meine Brüder stellten hin, was sie gebaut hatten. Meine Schwester holte das Lottospiel mit Blumen und Tieren, von Oma gemalt. Eine Karte fehlt. Der rote Schirm.

         Als der Tag da war, wuschen wir uns freiwillig und zogen unsere besten Sachen an. Meine Mutter hatte einen Kuchen gebacken. Mit gerösteten Haferflocken schrieb sie das Datum darauf. „Kramers kommen von drüben“, sagte sie, und dass es nicht so einfach wäre.

         Das verstand ich. Beim Spielen mussten wir auch manchmal über Zäune klettern.

         Wie Bubel und Puck aussahen, weiß ich nicht mehr, nur, dass meine Geschwister wenig aßen – sonst kam das nicht vor.

Sie zogen die beiden so schnell wie möglich ins Kinderzimmer. Ich weiß nicht, was wir gespielt haben und wie lang der Nachmittag dauerte. Er war wie die Weihnachtsbescherung, wenn wir reinkommen und die Kerzen blenden. So hell. Weihnachten ist wie nichts anderes auf der Welt. Und doch etwas, das es wirklich gibt, jedes Jahr.

         Vom Tisch aus langte mein Bruder hinter sein Kopfkissen, holte die himmelblaue Puppenwiege, in der er Bonbons sammelte, und schüttete sie vor uns aus.

24 Bonbons! Ich war fünf. Ich konnte schon gut zählen. Aber dass jemand seinen Schatz opfert, das begriff ich nicht.

 

         Der Nachmittag mit Bubel und Puck liegt weit zurück. Heute weiß ich: Das größere Opfer brachte meine Schwester an diesem Tag.

         Sie war elf. Als die Kramers fortgingen, rannte sie ihnen nach und drückte Bubel und Puck auf der Treppe ihre Puppe in die Hand.

         Christine! Ihren größten Schatz! Christine, auf deren Nachthemd, heute weiß ich das, meine Oma ein blaues C gestickt hatte.

         Bubel und Puck kamen nie wieder. Die Erwachsenen sagten: Die Grenze ist jetzt dicht. Niemand konnte mehr über den Zaun klettern.

         Meine Schwester wollte keine neue Puppe. Sie ging schon aufs Gymnasium, da ist man vernünftig. Wenn ich nachts Angst hatte, kroch ich noch lange zu ihr ins Bett.

Irgendwann lag für mich unterm Weihnachtsbaum eine Puppe mit echtem Haar und Schlafaugen. Ich habe nie mit ihr gespielt. Aber ich nannte sie auch Christine.