Altweibersommer, Altmännerwinter

Altweibersommer, Altmännerwinter

16 Erzählungen, 2018

Wer älter wird, weiß: Viel kommt nicht mehr. Und kann von Glück sagen, wenn er mit seinem Leben zufrieden ist. Aber die anderen? Können sie nachholen, was versäumt wurde? Ändern, was misslang – während ihnen die Zeit davonläuft?

 

Stimmen:

Lisa-Marie Dickreiter, Autorin: „Sehr gelungen finde ich – neben dem originellen Thema der Kurzgeschichte Ein Garten voller Fische und ihrer dramaturgischen Umsetzung –, wie Johanne Jakobian die Sprache einsetzt, um die Ich-Erzählerin zusätzlich zu charakterisieren.

 

Sylvia Tornau, Autorin:

Johanne Jakobian erzählt in Ein Garten voller Fische vom Rückgang des Lebens in die eigene überschaubare und sich trotz allem wandelnde eigene Welt. Durch den Vergleich mit anderen Autorinnen kommt sie zu dem Urteil: Diese Meisterinnen des geschriebenen Wortes haben etwas zu sagen, und sie sagen es auf eine Weise, die gefangen nimmt, in ihre Geschichten reinzieht und fesselt.

 

Inhalt:

Warum Frauen länger leben – Doris – Das Hochzeitskleid – Frauen: Typ I, Typ II, Typ III – Der Reinmann-Effekt – Ein Garten voller Fische – Glück gehabt – Ich glaube, sie hieß Juliane – Schließ die Augen, mein Herz – Ein Mann, ein Kind – Das Spiegelbild – Die Fahrt zum Klassentreffen – Das Lebenswerk – Fehlalarm – Als der Krieg zu Ende war – Sterben mit Mozart

Warum Frauen länger leben

„Weißt du schon, warum wir länger leben?“, frage ich den Mann, der mit mir durch den Wald geht. Manchmal setzen wir uns auf eine Bank, manchmal kürzen wir den Weg ab. Aber eigentlich ist es immer derselbe Spaziergang, und wir kehren auch in immer demselben Lokal ein, bevor wir den Rückweg antreten.

„Wer: wir? Wir Europäer?“

„Ach was. Wir Frauen.“

„Ist das so?“

„Ja. In jedem Altersheim kloppen sich die Weiber um die paar Männer, die’s noch gibt.“

„Wahrscheinlich arbeiten wir zu viel“, sagst du.

„Ach nee. Das ist doch x-fach widerlegt. Hast du gehört, wovon die Frauen am Nachbartisch sprachen?“, frage ich.

„Richtig, da saßen ein paar“, sagst du. „Redeten ziemlich laut. Meinst du das?“

Ich kichere, denn ich habe den Frauen gern zugehört, richtig gern. „Die hatten die ganze Zeit nur ein Thema: Der Ein-Personen-Haushalt und wie man ihn organisiert.“

„Die ganze Zeit?“

„Ja. O ja! Du ahnst ja nicht, was man da alles beachten muss. Wo man einkauft. Wo man früher gut kaufen konnte, aber jetzt nicht mehr. Um wieviel Uhr man auf dem Markt sein muss, damit man alles frisch kriegt und nicht zu viel bezahlt. Wann die Wintersachen in den Keller müssen, wann man die Sommersachen raufholt. Wie man lüftet, ohne dass die Heizung teurer wird. Wie unpraktisch die Schwägerin ist; dabei hat man’s ihr hundertmal gezeigt.“ Ich lache.

Du schüttelst den Kopf und knurrst: „Gott, wie öde.“

„Sag das nicht. Die Frauen sind glücklich, weil sie sich als Siegerinnen fühlen. Sie machen alles richtig – besser als die anderen. Und der Seitenhieb auf die Schwägerin ist das Sahnehäubchen.“

„Hm“, stößt du hervor. „Was findest du daran so interessant?“

„Dass es die Frauen am Leben hält.“

„Kann ich mir nicht vorstellen.“

Wir haben die U-Bahnstation erreicht. Auf der Treppe kommen wir nicht an einer Gruppe vorbei, in der lebhaft gesprochen wird. Wir sehen uns an: Es sind Männer. Alte Männer!

In stummer Eintracht überholen wir die Gruppe. Danach werden unsere Schritte von selbst kleiner.

Wir können mühelos verstehen, wovon die Rede ist: Die Männer schimpfen über die Jugend von heute. Rücksichtslos. Ahnungslos. Respektlos. „Wollen ja alle nicht mehr arbeiten“, sagt einer und erntet Zustimmung von allen Seiten.

Unsere Bahn fährt ein. Wir setzen uns und sehen die Männer auf dem Bahnsteig, bis wir im Tunnel sind. Liegt es an dem fahlen Licht, dass Du mir blass vorkommst?

Weil Frauen immer nett sein wollen, sage ich: „Mit denen hast du nichts gemeinsam, weiß Gott.“

„Musst du mir nicht sagen“, knurrst du, und ich denke: Wozu auch. Mein Spiegelbild schwankt in der Fensterscheibe, und auf einmal meldet sich ein Vers, den ich kenne. Lange schon. Woher, warum? Keine Ahnung.

Das Leben ist ein Jux. Ich seh’s, wohin ich schau.

So dacht’ ich immer schon, jetzt weiß ich es genau.